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Cannabis bei Multipler Sklerose: Wirkung, Studien und Sativex-Therapie
Hinweis: Dieser Artikel dient ausschließlich Informationszwecken. Wir geben keine medizinische Beratung. Bei gesundheitlichen Fragen konsultieren Sie bitte einen Arzt.
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, die das Leben von etwa 280.000 Menschen in Deutschland betrifft. Zu den belastendsten Symptomen gehören Spastiken - schmerzhafte Muskelverkrampfungen, die Bewegung einschränken und die Lebensqualität massiv beeinträchtigen. Cannabis hat sich als wirksame Therapieoption bei therapieresistenter Spastik etabliert und ist für viele MS-Patienten zur Hoffnung geworden. Dieser fundierte Ratgeber erklärt, wie Cannabinoide bei MS wirken, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen und wie Sie als MS-Patient von medizinischem Cannabis profitieren können.
Warum Cannabis bei Multipler Sklerose wirkt
Das Endocannabinoid-System spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation von Entzündungen, Schmerzwahrnehmung und Muskeltonus - alles zentrale Aspekte der MS-Symptomatik. Bei MS-Patienten ist dieses System oft gestört. Die Cannabinoide THC und CBD aus medizinischem Cannabis docken an die körpereigenen CB1- und CB2-Rezeptoren an und können so verschiedene Symptome lindern.
Wirkmechanismen bei MS
THC wirkt über CB1-Rezeptoren im Gehirn und Rückenmark direkt muskelentspannend und kann überschießende Nervensignale dämpfen, die zu Spastiken führen. Dies erklärt die ausgeprägte Wirkung bei Muskelkrämpfen. Gleichzeitig beeinflusst THC die Schmerzwahrnehmung und kann neuropathische Schmerzen lindern, die bei vielen MS-Patienten auftreten.
CBD wirkt entzündungshemmend über CB2-Rezeptoren und andere Mechanismen. Bei MS, einer entzündlichen Erkrankung, kann dies die zugrunde liegenden Prozesse positiv beeinflussen. CBD verstärkt zudem die Wirkung von THC und reduziert gleichzeitig dessen psychoaktive Nebenwirkungen - ein Synergieeffekt, den sich Sativex zunutze macht.
Spastik als Hauptindikation
Spastik betrifft bis zu 80 Prozent aller MS-Patienten und äußert sich in unkontrollierbaren Muskelkrämpfen, Steifheit und Schmerzen. Herkömmliche Medikamente wie Baclofen, Tizanidin oder Dantrolen wirken nicht bei allen Patienten ausreichend und haben oft erhebliche Nebenwirkungen wie starke Müdigkeit oder Leberschäden. Cannabis bietet hier eine wirksame Alternative mit meist günstigerem Nebenwirkungsprofil.
Wissenschaftliche Studien zu Cannabis bei MS
Die Studienlage zu Cannabis bei Multipler Sklerose ist im Vergleich zu vielen anderen Indikationen ausgezeichnet. Hunderte Studien haben die Wirksamkeit untersucht, und das Cannabinoid-Spray Sativex hat die strengen Zulassungsstudien erfolgreich durchlaufen.
Zentrale Studienergebnisse
Eine wegweisende britische Studie aus dem Jahr 2003 untersuchte 630 MS-Patienten über 15 Wochen. Die Cannabis-Gruppe zeigte eine signifikante Reduktion der Spastik um durchschnittlich 30 Prozent im Vergleich zur Placebo-Gruppe. Besonders bemerkenswert: Die subjektiv empfundene Verbesserung war noch deutlicher als die objektiv gemessenen Werte.
Die Zulassungsstudien für Sativex zeigten bei therapieresistenter Spastik eine Ansprechrate von etwa 40-50 Prozent nach vierwöchiger Behandlung. In einer Langzeitstudie über 12 Monate blieb die Wirksamkeit stabil, und über 70 Prozent der Patienten berichteten von anhaltender Symptomverbesserung.
Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2018, die 17 kontrollierte Studien mit mehr als 3.000 MS-Patienten auswertete, bestätigte die moderate bis starke Wirksamkeit von Cannabinoiden bei Spastik. Die Autoren schlossen, dass Cannabis eine evidenzbasierte Therapieoption bei therapieresistenter MS-Spastik darstellt.
Langzeitdaten und Sicherheit
Langzeitbeobachtungen über 2-4 Jahre zeigen, dass Cannabis bei MS-Patienten auch über lange Zeiträume wirksam und sicher bleibt. Das Abhängigkeitspotenzial ist gering, und schwere Nebenwirkungen sind selten. Viele Patienten können sogar ihre Gesamtmedikation reduzieren, weil Cannabis mehrere Symptome gleichzeitig adressiert.
Sativex: Das MS-Cannabinoid-Spray
Sativex (Nabiximols) ist das einzige in Deutschland explizit für MS zugelassene Cannabismedikament und gilt als Goldstandard bei therapieresistenter Spastik. Es handelt sich um ein Mundspray mit einem standardisierten 1:1-Verhältnis von THC und CBD.
Anwendung und Dosierung
Sativex wird auf die Mundschleimhaut gesprüht, meist unter die Zunge oder an die Wangeninnenseite. Ein Sprühstoß enthält 2,7 mg THC und 2,5 mg CBD. Die Dosierung erfolgt individuell und langsam einschleichend: Begonnen wird mit 1-2 Sprühstößen am Abend, dann wird alle 2-3 Tage um einen Sprühstoß erhöht, bis die optimale Wirkung erreicht ist.
Die durchschnittliche Erhaltungsdosis liegt bei 6-12 Sprühstößen pro Tag, verteilt auf mehrere Einzeldosen. Die maximale Tagesdosis beträgt 12 Sprühstöße. Wichtig ist die langsame Dosissteigerung, um Nebenwirkungen zu minimieren und die individuelle Verträglichkeit zu testen.
Vorteile von Sativex
Die standardisierte Zusammensetzung ermöglicht eine präzise und reproduzierbare Dosierung. Die Anwendung als Spray ist diskret und einfach - kein Vaporizer nötig. Die Wirkung tritt nach 15-45 Minuten ein und hält 3-4 Stunden an. Für die Krankenkassen ist Sativex oft akzeptabler als Cannabisblüten, da es ein zugelassenes Fertigarzneimittel mit klarer Studienlage ist.
Nachteile und Alternativen
Der größte Nachteil sind die hohen Kosten: Eine Flasche Sativex mit 270 Sprühstößen kostet etwa 400-550 Euro und reicht bei durchschnittlicher Dosierung 3-4 Wochen. Monatlich entstehen Kosten von 400-700 Euro. Viele Patienten wechseln nach anfänglichem Erfolg mit Sativex zu Cannabisblüten, die bei ähnlicher Wirkung deutlich günstiger sind. Auch die Kombination ist möglich: Sativex als Basistherapie, Blüten bei Bedarf.
Cannabisblüten und Öle bei MS
Neben Sativex können MS-Patienten auch klassische Cannabisblüten oder -öle verschrieben bekommen. Dies bietet mehr Flexibilität bei der Sortenauswahl und ist meist kostengünstiger.
Geeignete Cannabissorten
Für MS-Spastik eignen sich Sorten mit ausgeglichenem THC:CBD-Verhältnis am besten, ähnlich wie bei Sativex. Sorten mit 5-15 Prozent THC und ähnlich hohem CBD-Gehalt werden oft gut vertragen und wirken effektiv. Beispiele sind Bedrolite (CBD-dominant), Bediol (1:1) oder Bedica (mittlerer THC-Gehalt). Reine THC-Sorten können bei starker Spastik wirksamer sein, verursachen aber mehr psychoaktive Effekte.
Anwendungsformen
Inhalation via Vaporizer: Die Wirkung tritt nach 5-15 Minuten ein und eignet sich für akute Spastik-Attacken. Verdampfungstemperatur sollte bei 180-200 Grad Celsius liegen. Nachteil: Mehrmals tägliche Anwendung nötig, da Wirkdauer nur 2-4 Stunden beträgt.
Cannabisöle: Werden oral eingenommen und wirken nach 30-90 Minuten für 6-8 Stunden. Ideal als Basistherapie mit stabiler Wirkung über den Tag. Viele MS-Patienten kombinieren: Öl morgens und abends als Grundtherapie, Vaporizer bei Bedarf für akute Beschwerden.
Der Weg zum Cannabis bei MS
Als MS-Patient haben Sie gute Chancen auf eine Cannabis-Verordnung, wenn Sie unter therapieresistenter Spastik oder anderen belastenden Symptomen leiden.
Voraussetzungen für die Verschreibung
Sie benötigen eine gesicherte MS-Diagnose und sollten bereits andere Spastik-Medikamente wie Baclofen oder Tizanidin ausprobiert haben, die entweder nicht ausreichend wirken oder nicht vertragen werden. Ihr behandelnder Neurologe kann die Verschreibung vornehmen. Falls Ihr Neurologe zurückhaltend ist, können spezialisierte Cannabis-Ärzte weiterhelfen.
Kostenübernahme durch die Krankenkasse
Bei MS ist die Genehmigungsquote überdurchschnittlich hoch, da die Indikation gut etabliert ist. Für Sativex liegt sie bei etwa 80-85 Prozent. In Ihrem Antrag sollten dokumentiert sein: MS-Diagnose, bisherige Spastik-Medikation mit Wirkungs- und Verträglichkeitsprofil, Schweregrad der Spastik (am besten mit Spastik-Skala dokumentiert) und Einschränkungen im Alltag.
Bei Ablehnung sollten Sie unbedingt Widerspruch einlegen. Oft hilft es, zusätzliche ärztliche Stellungnahmen beizufügen oder auf die Sativex-Zulassung zu verweisen. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) kann Sie beim Genehmigungsprozess unterstützen.
Von Sativex zu Blüten wechseln
Viele Krankenkassen genehmigen zunächst nur Sativex, nicht aber die günstigeren Cannabisblüten. Strategie: Beginnen Sie mit Sativex, dokumentieren Sie die Wirksamkeit über 3-6 Monate, und beantragen Sie dann einen Wechsel zu Blüten mit der Begründung, dass die Wirksamkeit belegt ist, aber die Kosten zu hoch sind. In einem zweiten Antrag sind die Erfolgsaussichten deutlich besser.
Erfahrungen von MS-Patienten
Die Erfahrungsberichte von MS-Patienten mit Cannabis sind überwiegend positiv, insbesondere bei Spastik und Schmerzen.
Typische Verbesserungen
Patienten berichten am häufigsten von deutlich reduzierten Muskelkrämpfen, besonders nachts. Die Beweglichkeit verbessert sich, Gehstrecken werden länger. Schmerzhafte Spastiken treten seltener und weniger intensiv auf. Der Schlaf verbessert sich erheblich, da nächtliche Krämpfe abnehmen. Viele Patienten können andere Medikamente reduzieren, insbesondere Muskelrelaxantien und Schmerzmittel.
Realistische Erwartungen
Cannabis ist keine Wunderlösung und wirkt nicht bei allen MS-Patienten gleich gut. Etwa 60-75 Prozent sprechen gut auf Cannabis an, bei 25-40 Prozent ist die Wirkung gering oder nicht vorhanden. Die Spastik wird meist nicht vollständig beseitigt, aber auf ein erträgliches Maß reduziert. Die volle Wirkung zeigt sich oft erst nach mehreren Wochen Therapie.
Praktische Tipps für MS-Patienten
Wenn Sie Cannabis bei MS ausprobieren möchten, beachten Sie folgende Empfehlungen:
Einstellung und Dosierung
Beginnen Sie immer niedrig dosiert und steigern Sie langsam. Bei Sativex: 1-2 Sprühstöße abends für einige Tage, dann schrittweise erhöhen. Bei Blüten: Beginnen Sie mit 0,05-0,1 g am Abend. Die Hauptdosis sollte abends erfolgen, um Tagesmüdigkeit zu vermeiden. Bei schwerer Spastik kann eine Verteilung auf 2-3 Dosen über den Tag sinnvoll sein.
Kombination mit anderen Therapien
Cannabis ersetzt nicht die MS-Basistherapie mit Immunmodulatoren. Auch Physiotherapie, Krankengymnastik und Ergotherapie bleiben wichtig. Cannabis kann aber helfen, Übungen besser durchführen zu können, da die Spastik reduziert ist. Besprechen Sie mögliche Wechselwirkungen mit Ihrem Neurologen, besonders wenn Sie Baclofen, Tizanidin oder Antidepressiva nehmen.
Dokumentation und Therapieanpassung
Führen Sie ein Symptom-Tagebuch: Notieren Sie Spastik-Intensität, Cannabis-Dosis, Nebenwirkungen und Alltagsaktivitäten. Dies hilft Ihnen und Ihrem Arzt, die optimale Dosierung zu finden, und ist wertvoll für Folgeanträge bei der Krankenkasse. Planen Sie regelmäßige Kontrolltermine alle 4-8 Wochen ein, um die Therapie anzupassen.
Autofahren mit Cannabis
MS-Patienten, die Cannabis nehmen, dürfen unter bestimmten Voraussetzungen Auto fahren. Sie müssen durch die Medikation nicht beeinträchtigt sein, und die Therapie sollte stabil eingestellt sein. Führen Sie immer Ihr Rezept und ein ärztliches Attest mit. In der Einstellungsphase sollten Sie nicht fahren. Lassen Sie sich von Ihrem Neurologen schriftlich bestätigen, dass Sie mit stabiler Cannabis-Medikation fahrtüchtig sind.
Alternative und ergänzende Behandlungen
Cannabis sollte als Teil eines umfassenden MS-Therapiekonzepts gesehen werden.
Andere Spastik-Medikamente
Wenn Cannabis nicht ausreichend wirkt oder nicht vertragen wird, gibt es weitere Optionen: Baclofen (orales Muskelrelaxans oder als intrathekale Pumpe), Tizanidin, Dantrolen, Gabapentin bei zusätzlichen neuropathischen Schmerzen oder Botulinumtoxin-Injektionen bei fokaler Spastik. Manchmal ist die Kombination von Cannabis mit niedrig dosiertem Baclofen am wirksamsten.
Nicht-medikamentöse Ansätze
Physiotherapie mit Dehnübungen ist essenziell zur Spastik-Kontrolle - Cannabis kann die Übungen erleichtern. Kälteanwendungen können akute Spastik-Attacken lindern. Ergotherapie hilft, Alltagsaktivitäten trotz Spastik zu bewältigen. Ausreichend Schlaf, Stressreduktion und Vermeidung von Triggern (Hitze, Infekte, Erschöpfung) sind wichtig.
Zukunftsperspektiven: Cannabis und MS-Forschung
Die Forschung zu Cannabis bei MS geht weiter, und neue Erkenntnisse vertiefen das Verständnis der Wirkmechanismen.
Neue Cannabinoid-Medikamente
Neben Sativex werden weitere Cannabinoid-Medikamente entwickelt: Mundschleimhautpflaster mit langsamer Cannabis-Freisetzung für 24-Stunden-Wirkung, neue THC:CBD-Verhältnisse für optimierte Wirksamkeit und Verträglichkeit, und synthetische Cannabinoide mit gezielter Wirkung auf bestimmte Rezeptoren. In den nächsten Jahren könnten weitere Präparate in Deutschland zugelassen werden.
Krankheitsmodifizierende Effekte
Erste Laborstudien untersuchen, ob Cannabinoide nicht nur Symptome lindern, sondern auch neuroprotektive (nervenschützende) Effekte haben könnten. CBD zeigt in Tiermodellen entzündungshemmende und möglicherweise krankheitsmodifizierende Wirkungen. Klinische Studien dazu laufen, die Ergebnisse stehen aber noch aus. Aktuell gilt Cannabis bei MS als reine Symptomtherapie, nicht als krankheitsmodifizierende Behandlung.
Fazit: Cannabis als wirksame Option bei MS
Cannabis, insbesondere Sativex, ist eine wissenschaftlich gut belegte und wirksame Therapieoption für MS-Patienten mit therapieresistenter Spastik. Die Studienlage ist überzeugend, und die Erfahrungen vieler Patienten bestätigen die Wirksamkeit. Als MS-Patient haben Sie gute Chancen auf eine Verschreibung und Kostenübernahme, wenn Sie die Voraussetzungen erfüllen.
Cannabis kann Ihre Lebensqualität erheblich verbessern, indem es Spastiken, Schmerzen und Schlafstörungen lindert. Es ist jedoch keine Wunderlösung und sollte als Teil eines umfassenden Behandlungskonzepts gesehen werden. Die individuelle Wirksamkeit variiert, und nicht jeder Patient spricht gleich gut an. Eine sorgfältige Einstellung unter ärztlicher Begleitung ist entscheidend für den Therapieerfolg.
Sprechen Sie mit Ihrem Neurologen über Cannabis als Therapieoption, informieren Sie sich über Ihre Rechte, und scheuen Sie sich nicht, bei Ablehnung durch die Krankenkasse Widerspruch einzulegen. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft und spezialisierte Cannabis-Ärzte können Sie auf diesem Weg unterstützen.
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